D. Zerbe (Hrsg.): Wissensspeicher der Reformation

Cover
Titel
Wissensspeicher der Reformation. Die Marienbibliothek und die Bibliothek des Waisenhauses in Halle


Herausgeber
Zerbe, Doreen
Reihe
Kataloge der Franckeschen Stiftungen 34
Erschienen
Wiesbaden 2016: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Britta-Juliane Kruse, Forschungsabteilung, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Die gleichnamige Ausstellung fand als Kooperation der Franckeschen Stiftungen und der Marienbibliothek Halle zum 500. Jubiläum der Reformation statt (30. Oktober 2016 bis 26. März 2017). Da ausgewählte Handschriften, gedruckte Bücher und Objekte aus beiden Institutionen erstmals zusammen gezeigt wurden und der Katalog viele aktuelle Aspekte kulturhistorischer Forschung aufgreift und vertieft, ist er unbegrenzt relevant und empfehlenswert. Nach Geleitworten und einer Einführung der Kuratorin Doreen Zerbe folgen drei Essays. Helmut Zedelmaier, bekannt für seinen Forschungsschwerpunkt „Wissenspraktiken“, beginnt mit dem Thema Bibliotheken im Kontext von Glaubenssicherung und Wissensbewahrung im 16. Jahrhundert. Er bezieht sich auf die zunehmende Digitalisierung, konstatiert ein sukzessives Verschwinden von Büchern aus privaten Haushalten und benennt wegweisende Publikationen der aktuellen Bibliotheksforschung. Seine präzise Lesart von Martin Luthers Sendschreiben „An die Radherrn aller stedte deutsches lands“ (1524), das Aussagen über die Bedeutung der Bibliotheken zur Festigung des Protestantismus und zum Schutz reformatorischer Schriften enthält, bietet wichtiges Hintergrundwissen. Thomas Müller-Bahlke beschreibt in seinem weitgreifenden Beitrag „Konfessionelle Identitäten und interkonfessionelle Abgrenzungen. Der Hallesche Pietismus im Umgang mit Migrationsprozessen im Luthertum“ religiös motivierte Wanderungsbewegungen und Auswirkungen des Pietismus auf die Gesellschaften Indiens und Amerikas. Mitglieder dort gegründeter Gemeinden von Ausgewanderten erhielten lange Bibeln und Erbauungsliteratur, die in Halle gedruckt worden waren. Stefan Laubes Essay bezieht sich auf die materiellen Dimensionen einer Kombination frühneuzeitlicher Bibliotheken mit Objekten in Wunderkammern, wie sie in Halle bis heute besichtigt werden können. Sein Titel „Luthers Maske und Melanchthons Schuh“ spricht bei der Lektüre an, seine ersten Sätze wecken Interesse: „Während Dinge zunächst nichts anderes zeigen als ihre Materialität, werden Bücher in erster Linie als Träger von Bedeutungen angesehen. Dinge sind vornehmlich haptisch, Bücher semantisch. Erstere kann man anfassen, letztere liest man. Die umgekehrte Herangehensweise – Dinge zu lesen bzw. Bücher anzufassen – wäre ebenso denkbar, ist aber nicht die Regel […].“ (S. 57)

So vorbereitet, begibt man sich bei der Lektüre der folgenden sieben Kapitel zu Gliederung und Architektur der Ausstellung auf einen inzwischen imaginären Rundgang durch die Räume. Andrea Thiele widmet sich Buchdruck und Buchbesitz in Halle zu Beginn des 16. Jahrhunderts und wählte für ihren Titel ein Zitat, dass die zum Teil an archäologische Praktiken erinnernde Auffindung verborgener Bücher umschreibt: „da das Buch […] nebst andern eingemauert gewesen“. Ihr Text bietet Überblick über die Topographie Halles als kulturelles Zentrum. Ortsansässige Buchdrucker werden vorgestellt, Stifterinnen und Stifter von Büchern benannt. Jutta Eckles Beitrag ‚Hofnvng mein Trost. Die Bibliothek der Familie von Selmenitz“ beschreibt die inzwischen genauer erforschte private Besitz- und Benutzungsgeschichte von Büchern, hier mit einem Akzent auf dem Aspekt weiblichen Buchbesitzes. Hinweise boten Einträge in Büchern der Felicitas von Selmenitz (1488−1558), die als Witwe längere Zeit in Wittenberg lebte und Kontakt zur Familie Luther hatte. Sie vererbte diese an ihren Sohn Georg von Selmenitz (†1578), der nach einem Jurastudium in Wittenberg später Hofrat des katholischen Merseburger Bischofs Michael Helding war. Für die Ausstellung konnte eine prächtige Bibelausgabe aus Privatbesitz, die ‚Selmenitz-Bibel‘ digitalisiert werden.

Doreen Zerbe konzentriert sich auf die Gründungsgeschichte der 1552 eingerichteten Marienbibliothek, die als älteste der Öffentlichkeit zugängliche evangelische Gemeindebibliothek gilt. Ebenso wie die Waisenhausbibliothek vom Anfang des 18. Jahrhunderts entsprach sie idealtypisch Martin Luthers erwähntem Postulat einer allgemeinen Teilhabe an Bildung. Während vor diesem Katalog nur ein schmales Heft über den Buchbestand der Marienbibliothek informierte, werden nun aktuelle Einsichten in Stiftung und Ausstattung dieser bemerkenswerten Kirchenbibliothek vorgestellt. Brigitte Klosterberg publizierte das Standardwerk zur Bibliothek der Frankeschen Stiftungen und konzentriert sich hier auf die besondere Bedeutung dieses „Wissensspeichers“ für die schriftliche Überlieferung aus Reformationszeit und Pietismus. Heute ist die barocke Kulissenbibliothek zu Halle wegen ihrer unangetasteten Ausstattung mit originalem Mobiliar zur Rekonstruktion nicht erhaltener frühneuzeitlicher Bibliotheken von großer Bedeutung. In Kooperation mit Mechthild Hofmann wendet sich Brigitte Klosterberg dann der Rolle von Büchern als Speichern der Erinnerung in Zeiten von Flucht und Exil zu. Von einigen ihrer Besitzerinnen und Besitzer, die als Glaubensflüchtlinge ihre Herkunftsorte verlassen mussten, wurden diese als „das eintzige zeitliche Vermögen“ wertgeschätzt. Unter den themenrelevanten Exponaten fallen zwei böhmische Bibeln mit Einträgen zur Geschichte ihrer früheren Besitzer auf, die zu den „Exulanten“ zählten.

Ein Teilaspekt vieler Ausstellungen des Reformationsjahres war die Betrachtung der fortlaufenden Wirkungsgeschichte Martin Luthers als Ikone der Reformation. Entsprechend beschreibt Doreen Zerbe unter dem Titel „So sahe Luther aus“ posthume, in historischen Fotografien festgehaltene Inszenierungen des Reformators. Relikt des Lutherkultes war eine ihm zugeschriebene wächserne Totenmaske, die im Katalog mit vermeintlichen Abgüssen seiner Hände großformatig abgebildet ist. Alle drei Objekte gehörten zu einer wohl aus dem 17. Jahrhundert stammenden Lutherfigur, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Marienbibliothek ausgestellt war und den Reformator bei der Bibellektüre zeigte. Praktiken zur Feier des „Theuren Rüstzeugs Gottes“ anlässlich der Reformations- und Lutherjubiläen im Verlauf der letzten Jahrhunderte kommentiert Claus Veltmann im siebten Kapitel. Materielle Zeugnisse seiner Verehrung sind Augenzeugenberichte, Gedenkmedaillen, Gedächtnisplaketten und Erinnerungsblätter.

Ein Register der Personen und Orte sorgt für zusätzliche Transparenz. Nicht nur die vielfältigen Aspekte einer Rezeptionsgeschichte der Reformation in beiden Bibliotheken, sondern auch die ansprechende Ausstattung mit einer kreativen Auswahl wunderbarer Detailaufnahmen aus historischen Büchern und Bibliotheksräumen und das professionelle Layout laden dazu ein, den erfreulich handlichen Katalog immer wieder aus dem Regal zu nehmen.

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